Dortmunder & Bochumer Modell Musik
Das Dortmunder Modell: Musik 2010 - 2013
Die Jahre 2010 bis 2013 brachten für viele Menschen mit Beeinträchtigung, aber auch für Lehrende und Studierende an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund viele Neuerungen in Sachen Musik und Inklusion. Dank der Unterstützung durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW konnte das Projekt Dortmunder Modell: Musik durchgeführt werden. Es hatte sich nicht nur zur Aufgabe gemacht, in den Dortmunder Werkstätten für behinderte Menschen musikalisch interessierten und begabten Werkstattbeschäftigten musikalische Bildung zu vermitteln, es hatte sich das übergeordnete Ziel gesetzt, inklusive und professionell arbeitende Ensembles aufzubauen und das regionale und überregionale Musikleben um diese Ensembles zu erweitern. Zudem sollten Studierende der Rehabilitationswissenschaften die Möglichkeit haben, in Seminaren und in einem inklusiven Chor Erfahrungen in der musikalischen Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu sammeln.
Der Film domo vision, auf Youtube zu finden unter https://www.youtube.com/watch?v=BIqReCpsR-w, zeigt Entwicklung und Ergebnisse des Dortmunder Modell: Musik, kurz DOMO.
Im Verlauf von DOMO fanden verschiedene Konzerte an besonderen Orten statt. Eines zum Beispiel im Borusseum in Dortmund. Das Thema: Spitzenspiel. Station 17 trifft DOMO. Einen Konzertausschnitt finden Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=c3n5_tuBKnQ . Ein anderes zum Beispiel im Rahmen der Ausstellung musik inklusiv, die von 06. September bis 07. Oktober im Dortmunder U stattfand. Einen Ausschnitt des Auftritts des Ensembles NIA - extended version mit dem Stück misery finden Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=WVVHJEUfXD8
Informationen und Texte zum Bochumer Modell: Musik, kurz BOMO, finden Sie im Anschluss an die Dokumentation von DOMO.
Die Text-Dokumentation Dortmunder Modell: Musik finden Sie unter
Das Bochumer Modell: Instrumentalspiel mit Behinderten
Musik und Inklusion beginnt in Deutschland nicht erst mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. Musik und Inklusion beginnt dreissig Jahre früher, zumindest in Bochum und Dortmund. Werner Probst ist Professor für "Musik bei Behinderten" an der damaligen Pädagogischen Hochschule Ruhr in Dortmund und sein Verständnis von Mensch und Musik möchte ihn beweisen lassen, dass Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen natürlich auch Schülerinnen und Schülern an der Musikschule werden können. Der von ihm initiierte Modellversuch "Instrumentalspiel mit Behinderten", durchgeführt in den Jahren 1979 - 1983, hat unmittelbare Folgen bis heute - und die Bochumer Musikschule, deren Gründungsleiter Probst in den 1960er Jahren war, ist bis heute Kernland und Herzstück von Musik und Inklusion. Am 09. und 10. November 2010 wurde 40 Jahre Bochumer Modell gefeiert.
40 Jahre Bochumer Modell Jubiläumsfilm: https://youtu.be/UrEPBSNnCTI
Jubiläumsfilm Jingle 1: https://www.youtube.com/watch?v=-B75D-kpP9s
Jubiläumsfilm Jingle 2 https://www.youtube.com/watch?v=ZA5yxvk4VpI
Ein Artikel aus der neuen musikzeitung Nr. 12 2019 unter https://www.nmz.de/artikel/jeder-mensch-ist-musikalisch
Irmgard Merkt : Jeder Mensch ist musikalisch. 40 Jahre Bochumer Modell – Musik und Inklusion
Vor drei Jahren, Ende Oktober 2016, wurde in Bochum das Anneliese Brost Musikforum Ruhr eröffnet. Architektonisch in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnet ist die Trias St. Marien-Kirche als würdigem Foyer, großem Konzertsaal mit etwa 1000 Plätzen auf der einen und kleinerem Multifunktionsaal auf der anderen Seite. Das Gebäudeensemble ist nicht nur Heimat der Bochumer Symphoniker, sondern auch der Musikschule Bochum: Die Mehrfachnutzung war Vorbedingung für die Genehmigung durch den Rat der Stadt.
Ungefähr zum Dreijährigen des Musikforums also feierte das Bochumer Modell –Musik und Inklusion am 09. Und 10. November 2019 seinen Vierzigsten: 1979 begann der Modellversuch „Instrumentalspiel mit Behinderten“, so auch der Titel der Veröffentlichung zum Modellversuch, 1991 herausgegeben von Werner Probst, dem Initiator des Modells.
Werner Probst, Gründungsleiter der Musikschule Bochum in den 1960er Jahren, war als Musikpsychologe und zutiefst demokratisch gesinnter Mensch von der grundlegenden Musikalität eines jeden Menschen überzeugt: „Jeder Mensch ist grundsätzlich in der Lage, Musik zu erleben und ist in diesem Sinne `musikalisch`“. Die Tatsache, dass in den damaligen Jahrzehnten kaum Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen ein Instrument erlernten, brachte Werner Probst in heiligen Zorn und dazu, über das Forschungsszenario Modellversuch nachzuweisen, dass Kinder an Sonderschulen natürlich auch erfolgreich die Musikschule besuchen können.
Nun, es gab zwei Vorläuferversuche, die wenig erfolgreich verliefen – aber Probst ließ sich nicht beirren. Neue Runde, neue Konzepte, neuer Versuch. Also genau die Haltung, die im Kontext Inklusion immer noch unabdingbar ist: Nicht wissen wie es geht, kann nicht heißen, es nicht zu machen. Risiko des Scheiterns aber auch des Gewinnens inbegriffen.
Vier Jahre Modellversuch von 1979 bis 1983 machten klar, wie es geht: Zunächst eine Präsentation verschiedener Instrumente mit der Möglichkeit des Ausprobierens und Experimentierens in der Förderschule – damals genannt Motivationsphase - mit abschließender Instrumentenwahl durch die Kinder, anschließend instrumentaler Kleingruppenunterricht während der Schulzeit und schließlich einmal wöchentlich Zusammenfassung aller Gruppen zu einem bunten Orchester.
Wem das bekannt vorkommt: Ja, die Grundstruktur des Modellversuchs ist auch die des späteren Großprojektes Jedem Kind ein Instrument.
Nächste Erkenntnisse: Die Kooperation von Schule und Musikschule ist unabdingbar. Und: Lehrkräfte an Musikschulen sind mit ihrer musikalischen und pädagogischen Kompetenz genau richtig für das Unterrichten von Kindern mit Beeinträchtigungen – sie müssen allerdings für diese Arbeit aus- bzw. fortgebildet werden.
Probst gründete in der Folge den „Berufsbegleitenden Lehrgang Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderung an Musikschulen“ mit der unvergleichlichen, aber nicht mehr änderbaren Abkürzung BLIMBAM. Der Lehrgang bildet seit nunmehr seit mehr als 30 Jahren Lehrkräfte an Musikschulen für das Unterrichten von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung, aber auch für die inklusive Ensemblearbeit aus. Die erste Nach-Probst-Generation, Claudia Schmidt und Robert Wagner, führt BLIMBAM erfolgreich weiter. Übrigens, der nächste Lehrgang beginnt im Januar 2020. Die zweite Nach-Probst - Generation tritt allmählich in bundesweite Fußstapfen: All diejenigen, die BLIMBAM durchlaufen haben, bringen das Thema Inklusion in ihre Musikschulen und neue Impulse ein.
Langsam, aber stetig wachsen nicht nur die sogenannten Fallzahlen, sondern es wächst auch die Qualität: Das Konzert von „just fun“ war nicht „nur“ das Konzert eines inklusiv arbeitenden Ensembles, sondern ein Stück Bigband-Hochkultur, das auf jede Bühne dieser Republik gehört.
Möglich werden solche Konzerte durch Personen, die das gesellschaftliche Thema der Inklusion ernst nehmen und musikalisch gestalten, Personen wie hier in Bochum Claudia Schmidt. Aber auch Claudia Schmidt kann nicht alles alleine machen – sie ist Teil eines Netzwerks, das in unterschiedlichen Aufgaben Inklusion gestaltet. Eine Musikschule braucht, daran kann es keinen Zweifel geben, in Sachen Inklusion einen Repräsentanten oder eine Repräsentantin, einen Ansprechpartner, eine Ansprechpartnerin, braucht reale Menschen, die Fragen beantworten und Zweifel ausräumen, braucht auch ein wohlwollendes Kollegium, das in den alltäglichen Fragen auch weiterhilft. Die Generation der Ansprechpartnerinnen: Auf die erste Abteilungsleiterin Karin Hedderich folgen Angelika Neuse (1989), Renate Müllemann (1993) und Marei Rascher (1997); derzeit ist Rainer Buschmann Inklusionsbeauftragter und damit auch die Kontaktperson für die Abteilung Bochumer Modell - Musik für Menschen mit Behinderungen.
Der 10. November 2019 war in Bochum drinnen wie draußen ein strahlender Herbsttag: Das Jubiläumsfest brachte würdigende Reden und vor allem viel gute Musik in allen Sälen. Das Wandelkonzert hat es gezeigt: Die Musikschule Bochum ist bundesweit die Herzschule musikalisch-inklusiver Arbeit. Das werden alle anderen Musikschulen vielleicht etwas neidvoll, vielleicht aber auch neidlos anerkennen.
Aus der Entstehungsgeschichte des Bochumer Modells
In Folgenden ein sehr persönlicherText von Werner Probst aus dem Jahr 1998 anlässlich der ersten bundesweiten Weiterbildungsveranstaltung InTakt 98 an der Universität Dortmund. In seiner unnachahmlich humorvollen und gleichzeitig sachlichen Art schildert er die Anfänge, Stolpersteine und Wandlungen des Bochumer Modells, das schließlich zu 40 Jahren erfolgreicher Musikschularbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung und mittlerweile zu vielen inklusiv arbeitenden musikalischen Ensembles nicht nur an der Musikschule Bochum führt.
Erschienen in Irmgard Merkt (Hg.) (2000): Ein Lied für Christina. Mit Beiträgen von Franz Amrhein, Aaron Eckstaedt, Max Fuchs, Eva Krebber-Münch, Irmgard Merkt, Angelika Neuse-Schneider, Werner Probst, Ruth Moroder-Tischler, Björn Tischler und Fredrik Vahle. Regensburg: ConBrio-Verlag S. 41 - 50. Das Buch ist nicht mehr erhältlich.
Werner Probst: Musik mit Behinderten an Musikschulen
Wenn ich an der Universität Dortmund im Rahmen von InTakt 98 spreche, so ist das für mich ein „Heimspiel“ mit allen positiven und negativen Seiten. Das Positive: man kennt den „Rasen“, den Rahmen, man begegnet alten Mitspielern, man ist in einer Altersgruppe der „Alten Herren“, die man mit wohlwollendem Schmunzeln betrachtet; sie können noch eine Menge, sind nicht mehr die Schnellsten und nehmen alles nicht mehr so ernst. Das Negative: man hört es schon flüstern „mein Gott, den gibt es immer noch, das hat er uns schon vor 10, 20, 25 Jahren erzählt“.
Dazwischen pendle ich, und da man mich „unter Vertrag“ genommen hat, spiele ich, besser: rede ich und spiele meine Stärken aus. Sie werden also etwas aus der Vergangenheit an der Universität Dortmund hören, von den Grundüberlegungen, den Beobachtungen, den Schulversuchen, von einem Modellversuch und seinen Folgen, vom aktuellen Stand der Musik mit behinderten Menschen an Musikschulen.
Vieles, was dort entstand, ist mit meiner Person verbunden: Von der Ausbildung her Musiklehrer und Psychologe, von der Habilitation her Hochschullehrer für Musikerziehung und Rehabilitation Behinderter, tätig als Musikschullehrer und Musikschulleiter, Vorstandsmitglied dann Ehrenmitglied des Verbandes deutscher Musikschulen, z.T. gleichzeitig Inhaber des Lehrstuhls für Musikerziehung Behinderter an der Universität Dortmund.
Ich fange die Geschichte beim Ursprung des Faches Musikerziehung mit Behinderten an der Pädagogischen Hochschule, später Universität Dortmund, an. Als ich 1969, also vor nunmehr 30 Jahren zur damaligen Abteilung für Heilpädagogik der Pädagogischen Hochschule nach Dortmund kam, gab es das Fach Musik mit Behinderten nicht und musste eingerichtet werden. Ich teilte mir mit dem Kunstkollegen eine Sekretärin und fand zu meiner ersten Vorlesung einen Studenten vor. Ich kümmerte mich fortan um das „Musische“ der Studenten für Heilpädagogik, die sog. Aufbaustudenten, d.h. Volksschullehrer, die für 4 Semester vom Dienst freigestellt waren um zum Sonderschullehrer ausgebildet wurden. Zwei oder drei Jahre später konnte man Sonderpädagogik „grundständig“, also direkt nach dem Abitur studieren, und Musik als Unterrichtsfach wählen.
Die Befürworter des Faches innerhalb der Abteilung, später des Fachbereiches und auch der Hochschule sahen vor allem die therapeutische Wirkung von Musik, wie sie in Lehrplänen für die verschiedenen Sonderschulen oft empathisch beschrieben wurden. Wir, das waren neben mir meine Assistentin und die Studenten, stellten folgenden Überlegungen an: wenn alles das stimmt, was in den Lehrplänen steht, dann sollte man es nicht in der Weise pauschal ansprechen „man singt und alles regelt sich“, sondern gezielt auswählen, anwenden, beobachten. Wir entwickelten aus diesen Überlegungen die „Pädagogische Musiktherapie“, eine Anwendung von Musik, die nicht in die Kompetenz der medizinischen Seite eingreift, sondern im pädagogischen Umfeld wirksam werden kann.
Eine zweite Überlegung: Unser Grundansatz war, dass jeder Mensch in der Lage ist, Musik zu erleben und in diesem Sinne „musikalisch“ ist. Wenn Schallereignisse als Musik wahrgenommen werden und nur dann Musik sind, findet ein Lernprozess statt im Sinne von Wahrnehmen, Speichern, Wiedererkennen, Wiederverwenden. Wieso sollte es nicht möglich sein, Behinderten Kenntnisse von Musik zu vermitteln? Kein Problem schien es bei körperlich Behinderten oder Sinnesgeschädigten, für die Lernbehinderten hatte man die „kleinen Werke großer Meister“, aber bei den Geistigbehinderten? In vielen Schulversuchen an Sonderschulen in Dortmund und Bochum stellten wir fest, dass und wie Musik vermittelbar, lernbar sein konnte.
Unsere erste grundlegende Fragestellung war, ob eine Korrelation zwischen Intelligenz und Musikalität nachzuweisen sei, was man im schulischen Umfeld nicht müde wurde zu behaupten. Uns war klar, dass wir es mit zwei sehr verwaschenen Begriffen zu tun hatten, nach denen Intelligenz das war, was der Intelligenztest misst und Musikalität das war, was der Musikalitätstest misst. Wir bezogen uns auf Untersuchungen von Schülern an Gymnasien und gleichaltrigen lernbehinderten Sonderschülern, bei denen sich ein signifikanter Unterschied zugunsten der „intelligenteren“ Gymnasialschülern zeigte. Unsere Versuchsanordnung sah vor, die Testanweisung des sog. Bentley–Tests von unnötigen verbalen Anweisungen zu befreien und die Aufgaben in anschaulicher Weise zu vermitteln. Das Ergebnis war, dass zwischen beiden zu vergleichenden Gruppen kein signifikanter Unterschied festgestellt werden konnte. Der entscheidende Fehler der anderen Untersuchungen war, dass mit der Testanweisung des Musikalitätstests gleichzeitig das Verhalten im Sinne eines Intelligenztests ermittelt wurde. Ein weniger hoher Wert des IQ lässt keine Rückschlüsse auf musikalische Anlagen zu, wohl aber auf zu erwartende Schwierigkeiten im Lernprozess – der Lehrer ist also gefordert.
Der Übergang von den 60er in die 70er Jahre brachte eine wesentliche Neuorientierung des Musikunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen. Die Musikdidaktiken von Michael Alt (1968), Heinz Antholz (1970), Dankmar Venus (1969) – um die wesentlichen Veröffentlichungen zu nennen – wirkten umwälzend. Sie stellten, wie Alt und Venus, das Hören von Musik in den Mittelpunkt eines tätigen „Unterrichts in Musik“, sie entwarfen, wie etwa Antholz ein Vokabular, das von der „Introduktion in die Musikkultur“ sprach und die Aufgabe darin sah, Musik hören zu lehren.
Wir haben in Dortmund die Signale verstanden, mussten dabei jedoch einsehen, dass ohne eigene Spiel- und Bewegungstätigkeit der Unterricht in Musik über den Kopf lief und unanschaulich wurde. Das musste gerade bei den Schülern, für die wir in der Hauptsache zuständig waren, Ratlosigkeit hervorrufen. Drei Ereignisse brachten für uns die Lösung im Sinne der sonderpädagogischen Grundregeln, die Ihnen geläufig sind, insbesondere die der Anschaulichkeit.
Das eine war ein ganz banales Ereignis, das ich als Musikschulleiter hatte. Ich schaffte für meine Musikschule, die im Entstehen war, Oboen an und ließ den Oboenlehrer die Instrumente ausprobieren. Sie kennen das: zusammensetzen des Instrumentes, schauen, dass Hebel und Gestänge im rechten Lot sind, Röhrchen in den Mund nehmen, daran lutschen, bis es weich ist, das Röhrchen aufstecken und dann einige Kaskaden spielen. Meine Sekretärin saß dabei, sie hatte noch nie eine Oboe gesehen. Nach einigen Tagen sagte sie zu mir: „Herr Probst, ich höre dauernd Oboen, jedes Mal, wenn ich Musik höre, merke ich, dass da eine Oboe mitspielt.“ Ich sah einen Weg, das Unanschauliche einer über Lautsprecher übertragenen Musik durch das Erlebnis von Musikinstrumenten, die in einem bestimmten Musikstück vorkamen, anschaulich und damit begreifbar zu machen. So musste es möglich sein, das Unterrichtsfeld des Hörens von Musik in den Unterricht mit Behinderten einzubeziehen.
Nahezu gleichzeitig machte Mauricio Kagel seine Workshops, in denen Instrumente aus Umweltmaterialien gebaut wurden und erschien Gertrud Meyer-Denkmanns Buch „Klangexperimente und Gestaltungsversuche im Kindesalter“. Beide, Kagel wie Meyer-Denkmann, revolutionierten das praktische Musizieren in den Schulen. Ich brauche hier nicht weiter darauf einzugehen; denn von beiden Anstößen lebt die Musikpädagogik noch heute.
Auch wir übernahmen den unkonven-tionellen Umgang mit Musik, fanden neue Spielregeln, bauten Instrumente nach und vermittelten den Kindern Grunderkenntnisse der Klangerzeugung durch Blasen, Zupfen, Streichen, Schlagen.
Das dritte Ereignis spielte sich wieder auf der Musikschulebene ab. Ich leitete etwa zur gleichen Zeit die Lehrplankommission des Verbandes deutscher Musikschulen, die einen neuen Lehrplan für die Musikalische Grundausbildung an Musikschulen erstellen sollte. Die Musikschulen sind keine Ausbildungsstätten, die sich vorwiegend mit dem Hören von Musikwerken befassen, wie es die damalige Didaktik für die Grund- und Hauptschulen sah, sondern in denen Musik gemacht wird. Hier nun konnten unsere Erfahrungen, die wir in Dortmund mit unseren behinderten Schülern gemacht hatten, einfließen: Das elementare Instrumentalspiel auf der Grundlage von Klangexperimenten, Musik und Bewegung von der freien Bewegung bis zum Folkloretanz, Singen mit dem Gebrauch der Stimme im Lied, im freien Ausdrucksbereich, im Sprechen, eine Information über Instrumente, Musikhören, das sich am erlebten Instrument orientierte und an anderen anschaulichen Unterrichtshilfen, eine Musiklehre, die nicht Selbstzweck war, sondern Erfahrungen aus den anderen Bereichen aufgriff. Dieser Lehrplan, der in seinen Grundideen nach einer Revision noch heute an Musikschulen Bestand hat, war Grundlage unseres Unterrichts in Musik an Sonderschulen – und wurde Vorbild für viele Lehrpläne des Musikunterrichts an Grundschulen.
Wir sahen die Ergebnisse und wussten, dass unsere Kinder viel mehr zu erfahren in der Lage waren als man es ihnen zutraute. Wir waren auf dem Wege der Normalisierung, vom Grundsatz her „das Kind kann“ und nicht die defizitäre Einstellung „das Kind kann nicht“.
In dieser Zeit eines optimistischen Aufbruchs wurden wir von Eltern und von Musiklehrern immer wieder um Rat gefragt: „Mein Kind ist so musikalisch, hört gerne Musik, singt immerzu, kann bei Musik nicht ruhig sitzen, möchte Klavier spielen .....was kann ich tun?“
Wir mussten in den meisten Fällen die Antwort schuldig bleiben, weil uns die Erfahrung fehlte, weil ich dem Musiklehrer nicht sagen konnte: „Probier’s mal, es wird schon gehen.“
Nicht, weil wir unserer Grundeinstellung untreu wurden, sondern weil wir das Defizitäre bei den Lehrern befürchteten.
Und weil wir sahen, wie „normal“ die Kinder in den Schulversuchen sich entwickelten, beschlossen wir, das waren im Laufe der Jahre mit mir Brigitte Steinmann, Karl-Jürgen Kemmelmeier, Irmgard Merkt, Beatrix Lumer als Assistent/innen und/oder Akademische Räte (heute alle wohlbestallte Professor/innen) und die Studenten, die sich im Kolloquium trafen, es selbst einmal mit einem Instrumentalunterricht zu versuchen.
Zwei Vorversuche scheiterten: Wir versuchten es mit Unterricht auf Trompeten und Posaunen bei lernbehinderten Schülern. Wir konnten 12 Trompeten und 8 Posaunen anschaffen – eine Großzügigkeit der Hochschule, die mich nie wieder getroffen hat - und warben in einer Schule für Lernbehinderte für einen Unterricht auf diesen Instrumenten. Es meldeten sich 16 Jungen und Mädchen für diesen Unterricht, der auf zwei Jahre geplant war und den zwei Instrumentallehrer der Musikschule Bochum durchführten, mit Unterstützung des Klassenlehrers und eines Studenten, der darüber seine Staatsarbeit schrieb. Die Schüler hatten vormittags eine allgemeine, vorbereitende Musikstunde in der Sonderschule und kamen nachmittags in ihre Schule zum Instrumentalunterricht in Vierergruppen.
Der Unterrichtsbesuch wurde bereits nach einigen Wochen z.T. unregelmäßig besucht, nach einem halben Jahr fehlten bereits zwei Posaunen und zwei Trompeten. Die Ausreden waren vielfältig: „Mein Bruder hat sie mir weggenommen“, „Plötzlich war sie kaputt“, Ich hab‘ sie verloren“ usw. Nach einem Jahr machten noch vier Trompetenspieler und eine Posaunenspielerin weiter. Der Versuch war gescheitert. Bei einem weiteren Versuch fand der Unterricht in Räumen der Musikschule statt, um die Kinder am Nachmittag nicht erneut in das Sonderschulgebäude kommen zu lassen. Auch dieser Versuch schlug bereits nach einem halben Jahr fehl.
Wir zogen das Resümee: Kinder erwarten vom Instrumentalunterricht, dass möglichst schnell ein akzeptables musikalisches Ergebnis erreicht wird. Lernbehinderte kommen nicht gerne am Nachmittag noch einmal in dieselbe Schule, wenn das, was dort geschieht, nicht besonderen Spaß macht. Die Musikschullehrer konnten den Spaß nicht vermitteln. Sie gehen, an Konservatorien oder Musikhochschulen ausgebildet, in der Regel vom Instrument aus und nicht vom Kind – daran hat sich bis heute nur in wenigen Fällen etwas geändert. Töne zu halten auf einem Blechblasinstrument ist zwar wichtig, als Selbstzweck jedoch höchst unmotivierend. Posaune ist für intelligenzschwache Kinder oder Jugendliche das falsche Instrument – eine Beobachtung, die seither an verschiedenen Stellen gemacht wurde, ohne dass man der Ursache bisher auf den Grund gekommen ist – Ventilposaune oder Tenorhorn zu lernen ist möglich, da diese Instrumente mit Ventilen und nicht mit einem Zug versehen sind. Und eine weitere Erkenntnis: es müssen nicht Blechblasinstrumente sein.
Ein neuer Anlauf wurde gemacht: wenn es mit Lernbehinderten, mit Blechblasinstrumenten für alle, mit Musikschullehrern nicht geht, dann versuchen wir es mit Geistigbehinderten, mit Instrumenten nach Wunsch, mit Instrumentallehrern, die über eine sonderpädagogische Ausbildung verfügen. Dieser Versuch soll hier kurz dargestellt werden:
Wir wählten eine Klasse an einer Schule für Geistigbehinderte, an der ich seit einem Jahr Musikunterricht erteilte. Es waren 12 Mädchen und Jungen einer Unterstufe vor dem Übergang zur Mittelstufe. In dem für ein halbes Jahr geplanten Unterricht wurde nun verstärkt das Kennenlernen von Musikinstrumenten in den Mittelpunkt gestellt und zwar solche Instrumente, für die sonderpädagogisch ausgebildete Lehrer zur Verfügung standen: Klavier, Blockflöte, Akkordeon, Trompete. Die Prinzipien der Tonerzeugung durch Anblasen und Anschlagen wurden im Anfertigen von Weidenflöte, Schlauchtrompete, Monochord, Metallzungen und Blasebalg erfahren, diese Tonerzeugung selbst erprobt, danach die richtigen Instrumente selbst gespielt, von einem Lehrer oder fortgeschrittenen Schüler der Musikschule vorgespielt. Musik, in der jeweils eines der Instrumente eine hervorgehobene Rolle spielte, wurde, versehen mit Höraufgaben, gehört. Mit Bewegungsspielen und Übungen der Rhythmik wurden die Kinder gefördert, ihr Bewegungsverhalten und ihr Zugriff zu den Instrumenten wurde beobachtet. Nach dem halben Jahr sollten die Kinder sagen, welches Instrument sie am liebsten mögen. Das Spiel dieses Instrumentes sollten sie erlernen. Da einige Kinder kein Sprachvermögen hatten oder ihre Mitteilungen nicht verständlich waren, wurden Karten mit der Abbildung der zur Auswahl stehenden Instrumente vorgelegt, die Kinder zeigten dann auf das betreffende Bild. Vier Kinder wählten Blockflöte, vier Kinder Trompete, zwei Kinder Klavier und zwei Kinder Akkordeon. Im Anschluss daran erhielten sie in Vierer- bzw. Zweiergruppen während der Schulzeit Unterricht auf ihren Instrumenten im Wechsel mit Bewegungsspielen in Räumen der Musikschule, die zu Fuß zu erreichen war.
Interessierte Lehrer/innen der Musikschule nahmen zunächst beobachtend, dann selber unterrichtend an diesem Versuch teil, der erfolgreich verlief und zur Vorlage wurde für den Modellversuch des Verbandes deutscher Musikschulen: Instrumentalspiel mit Behinderten und von Behinderung Bedrohten – Kooperation zwischen Musikschule und Schule. Entsprechend den Bedingungen eines Modellversuchs fand er von 1979 - 1983 in Verbindung mit dem Kultusministerium von Nordrhein Westfalen und der Bund-Länder-Kommission 1983 statt. Die Stadt Bochum unterstützte den Versuch und stellte u.a. Räume der Musikschule zur Verfügung.
In den Modellversuch wurden lernbehinderte, geistigbehinderte, körperbehinderte Kinder und „von Behinderung bedrohte Kinder“ einbezogen, in 21 Gruppen wurde unterrichtet. Jedem dort unterrichtenden sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrer – es waren in erster Linie Studenten der letzten Semester, die auf diese Aufgabe von uns besonders vorbereitet waren – wurde ein Musikschullehrer aus Musikschulen verschiedener Städte Nordrhein-Westfalens, Bremens, Niedersachsens und Hessens zugeteilt, die nach der Hospitation am Vormittag nachmittags in sonderpädagogische Fragen eingeführt wurden. Die Zeit des Vertrautmachens mit Instrumenten wurde von uns als Motivationsphase bezeichnet und ist nach wie vor das zentrale Geschehen im Suchen und Finden des „richtigen“ Instrumentes. Zum Zeitpunkt des Beginns des Modellversuchs wurden neben den bereits genannten Instrumenten auch Geige, Klarinette, Schlagzeug, Gitarre angeboten. Im weiteren Verlauf der zunehmenden Verbreitung des Unterrichtens von Behinderten als Schüler an Musikschulen, gab es generell kein Instrument, das ausgeschlossen wurde.
Aus dem Modellversuch entwickelte sich eine 1½ jährige berufsbegleitende Fortbildung „Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen“, die seitdem alljährlich beginnt.
Es führt im Rahmen dieses Berichtes zu weit, auf weitere Inhalte und Ergebnisse des Modellversuchs einzugehen. Veröffentlichungen sind hierzu erschienen und erhältlich. Vor allem sei auf meine Veröffentlichung „Instrumentalspiel mit Behinderten – Ein Modellversuch und seine Folgen“, Mainz 1991, hingewiesen.
Nach nunmehr 20 Jahren hat sich das von der Universität ausgehende, an der Musikschule Bochum erprobte Modell bundesweit ausgebreitet. 450 von 920 Musikschulen in Deutschland unterrichten heute behinderte Menschen. Das ist viel, wenn man an den Beginn denkt, das ist zu wenig, wenn man sieht, dass jede zweite Musikschule sich noch ausschließt.
Auf der Suche nach Gründen für den langen Weg bis zu einer Normalisierung des Verhältnisses behinderte Menschen – Musikschule konnte ich in vielen Gesprächen mit Leitern von Musikschulen und mit Lehrkräften immer wieder feststellen, wie wenig informiert man über Behinderung und deren Probleme war und ist. Damit unterscheidet sich dieser Personenkreis in keiner Weise von der Gesamtbevölkerung. Die Unsicherheit der Musikschulpädagogen ist schon verständlich, wenn sie sich die Frage stellen: Wie sollen wir es denn anfangen? Und die nachfolgende Frage: Sind wir überhaupt zuständig? Da gibt es die Sonderschulen mit ihren hierfür ausgebildeten Lehrkräften, sie sind doch entsprechend ausgerüstet und eigentlich zuständig.
Auf dem Wege zur Realisierung unseres Vorhabens war gerade diese Argument, auch von administrativer Seite häufig vorgetragen, immer wieder zu entkräften. Abgesehen davon, dass die Zahl an fachlich ausgebildeten, also im Fach Musik ausgebildeten Sonderschullehrern an allen Sonderschularten völlig unzureichend ist, beherrscht jeder der im Fach Musik ausgebildeten Lehrer ein, im Sonderfall zwei Instrumente in der Weise, dass er Instrumentalunterricht erteilen könnte. Damit verbleiben ein oder zwei Instrumente aus der Vielzahl der Wunschmöglichkeiten für alle Schüler einer Schule. Das Angebot verringert sich weiterhin dadurch, dass der betreffende Sonderschullehrer neben dem regulären Klassenunterricht Instrumentalunterricht erteilen müsste – hier setzen bereits arbeitsrechtliche und stundenplantechnische Vorgaben eine Grenze. Auf diese Weise könnten nur wenige Schüler eine Unterweisung im Spiel eines Instrumentes erhalten.
Nein, der geeignete Ort für die Unterweisung in musikalischer Tätigkeit über den – hoffentlich stattfindenden – allgemeinen Musikunterricht hinaus ist die Musikschule. Sie muss die Aufgabe zur gezielten Musikausbildung behinderter Menschen übernehmen, sie hat die Möglichkeiten zur instrumentalen Ausbildung auf einer Vielzahl von Instrumenten, zum Ensemblespiel und zu einer musikalischen Frühförderung oder Grundausbildung.
Ernst zu nehmen ist die Frage nach dem methodischen Vorgehen. Hier sammelten wir vor und während des Modellversuchs und in den Nachfolgejahren wertvolle Erkenntnisse, die wir in Kursen und in dem bereits angesprochenen berufsbegleitenden Lehrgang, der alljährlich im Januar beginnt, an Lehrkräfte von Musikschulen weitergeben. Die Musikschullehrer sind die geeigneten Lehrkräfte dann, wenn sie um die sog. „sonderpädagogischen Prinzipien“ wissen, die ihren Unterricht leiten sollen: die kleinen Schritte, die Anschaulichkeit, die Wiederholung, die Zurücknahme der sprachlichen Anweisung, die Tendenz zur abnehmenden Hilfe mit dem Ziel der Selbstständigkeit.
Die Musikschulen müssen, wollen sie allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zur musikalischen Tätigkeit bieten, mit den Sonderschulen und Schulen kooperieren. Hier treffen sie die behinderten Kinder, an die sie auf dem üblichen Weg der Anzeigenwerbung, der Mund-zu-Mund-Empfehlung nicht herankommen. Die Eltern sind in der Regel nicht informiert über die Fähigkeiten ihres Kindes, über die Möglichkeiten zur Musikbetätigung, über die Angebote einer Musikschule – wenn sie denn da sind.
Ein erheblicher Anteil der Schüler an Sonderschulen für Lernbehinderte kommt aus einem sozialen Umfeld, für das Musikmachen in einer Musikschule einem kulturellen Bereich angehört, zu dem man keinen Zugang hat. Zudem besteht hier oft eine Schwellenangst, mit einer Institution in Verbindung zu treten, die den Namen „Schule“ trägt. Gerade hier sind Kooperation und flexibles Handeln Voraussetzung für einen Zugang zu den Kindern.
Es bleiben eine Menge Probleme, die gemeinsam mit Schule und Musikschule gelöst werden müssen: der eingeengte zeitliche Bewegungsraum nach dem Schulunterricht, insbesondere in einer Ganztagsschule, Wohnverhältnisse, die das Üben auf einem Instrument erschweren, die Frage nach dem finanziellen Aufwand für Instrumentenbeschaffung und Unterrichtsgebühren.
Das verlangt nach der informierten Musikschule und der informierten Sonderschule oder Schule. Die behinderten Kinder und Jugendlichen sind Schüler einer Sonderschule oder auch Schüler in integrierten Klassen. Immer dort, wo eine Musikschule sich nicht um behinderte Schüler kümmert, haben diese Schulen kaum Kenntnisse von der Existenz und den Aufgaben einer Musikschule. Nicht zuletzt durch die Außendarstellung, die für die Musikschulen unabdingbar ist, gilt den Nichtinformierten die Musikschule als Unterrichtsstätte für „besonders Begabte“, zu denen man die betroffenen eigenen Schüler nicht zählt. Hinzu kommt der Mangel an geeigneten Fachlehrern, die immerhin davon wissen könnten, dass jedes Kind Musik machen kann, wenn es möchte.
Gründe über Gründe, die erklärlich machen, weshalb das Musikmachen mit behinderten Menschen an Musikschulen noch nicht der Regelzustand geworden ist, obwohl wir seit beinahe 20 Jahren durch das Land und die Verbände ziehen und mit vielen Beispielen zeigen können: es geht!
Wir sprechen vom „Instrumentalspiel mit Behinderten“ und vermeiden den Begriff „Unterricht“. Selbstverständlich bedarf es des Unterrichts, aber die Hervorhebung von Unterricht erinnert Schüler wie Lehrer allzu sehr an den „bedeutsamen“ Lehr- und Lernvorgang. Ziel und Methode soll das Spielen des Instrumentes mit dem Instrument sein, das dazu dient, Musik zu machen. Hierzu haben die Kinder ihr Instrument gewählt und kommen in die Musikschule, musizieren alleine, aber vorwiegend mit anderen gemeinsam.
Üben ist notwendiges Übel, um spielen zu können, wobei spielendes Üben den Spaß am Spielen nicht verhindern wird. Angesichts so mancher abgebrochenen Instrumentalausbildung muss man immer wieder fragen, was machen wir falsch, womit verderben wir Kindern und Jugendlichen den Spaß?
Instrumentalspiel bedeutet, dass von vornherein, von der ersten Stunde an musiziert wird. Die Teilnehmer an unseren Lehrgängen lernen, wie man nahezu voraussetzungslos mit Klängen und Geräuschen Musik machen kann und die Schüler auch ihr Instrument einbringen können.
Sie erfahren, wie mit einem Ton Melodien gespielt werden können, die begleitet werden. Es gibt eine Bedingung, die lautet: „Es muss Musik daraus werden.“
Der Wunsch zum Spielen eines Instrumentes ist stärker als ein Testergebnis, das eine negative Voraussage über die Instrumentenwahl gibt. Ein im Aufnahmeverfahren zur Sonderschule für Lernbehinderte oder für Geistigbehinderte festgestellter niedriger IQ-Wert sagt nichts über den Grad der musikalischen Veranlagung aus, wohl aber etwas über zu erwartende Schwierigkeiten im kognitiven Lernvorgang, bei dem man einen besonderen Weg gehen muss. Auch wir beobachten die Kinder in der Motivationsphase, führen insbesondere bei Körperbehinderten auch „Testspiele“ durch, um festzustellen, wo Probleme sich zeigen, die zu kompensieren sind, wo man pädagogisch besonders gefordert sein wird. Ein Kind, dessen dringender Wunsch es ist, Klavierspielen zu erlernen, obschon Finger einer Hand deformiert sind, wird das Klavierspielen erlernen: die Lehrkraft muss sich schon etwas einfallen lassen.
Man kann manches durch sogenannte adaptierte Instrumente kompensieren. Am bekanntesten sind Umbauten an Blechblasinstrumenten, ebenso sind Einhandflöten mit einem Klappensystem verbreitet. Elektronische Tasten- und Blasinstrumente bieten Möglichkeiten, trotz der Behinderung Musik zu machen.
Wir empfehlen, dass in der Regel die Motivationsphase in die Sonderschule oder Schule gelegt wird. Hier kann mit einem Klassenverband gearbeitet werden, ohne dass Kinder von vornherein ausgeschlossen werden. Der Sonderschullehrer wird zusätzlich Hilfestellung geben können – und müssen, da der Musikschullehrer ohne dessen Anwesenheit dort nicht unterrichten darf. Die Kinder können ohne Beeinflussung durch die Eltern ihr Instrument finden und wählen. Wir können heute, nach nunmehr 20 Jahren sagen, dass immer dann, wenn der Wunsch zum Spielen eines bestimmten Instrumentes vom Kind ausging, Spielen und Unterricht erfolgreich verliefen, Schwierigkeiten und Rückschritte, die immer wieder auftreten, leichter überwunden werden konnten.
Im Zusammenhang mit Musikschulen habe ich in diesem Bericht den Begriff „Musiktherapie“ vermieden. Musiktherapie ist eine der ältesten Therapien der Menschheit. Musik wird eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung und Veränderung zu erzielen. Musik wirkt, wenn sie vom Menschen erlebt wird, eine Wirkung im physischen und psychischen Bereich ist nachweisbar. Sie gezielt einzusetzen, um eine beabsichtigte Wirkung zu erreichen, ist Ziel einer Musiktherapie. Um das wirkungsvoll zu praktizieren, bedarf es des ausgebildeten Musiktherapeuten, der in der Lage ist, Wirkung und Auswirkung abzuschätzen.
Wenn wir mit Musik umgehen, mit unserem Personenkreis Musik machen, Musik hören oder Tanzen, zeigen sich immer Wirkungen und ereignet sich oft Therapeutisches: Die Schlagzeugerin, die beim Schlagen ihren Spasmus ihrer Hände überspielt und die nach dem Break wieder in den Spasmus zurückfällt, der Autist, der über das Instrument im Spiel den Kontakt zur Gruppe oder zum Gruppenleiter aufnimmt, die Trompeterin, die sich im Trompetenspiel von einem unsäglichen familiären Frust befreit. Alle unsere Lehrkräfte können über sichtbare Wirkungen berichten – und dennoch sind sie keine Therapeuten, die das Mittel Musik einsetzen, um eine beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Sie machen schlichtweg Musik in einem Umfeld, für das sie die künstlerische und nunmehr spezielle pädagogische Kompetenz haben. Wenn eine Musikschule einen ausgebildeten Musiktherapeuten einstellt, kann sie selbstverständlich Angebote in musiktherapeutischer Behandlung machen und ggf. über die Kassen abrechnen. Sie kann den Therapeuten auch als Lehrkraft für Behinderte und Nichtbehinderte einsetzen, denn in der Regel haben sie eine gute instrumentale und pädagogische Ausbildung. Dennoch bleibt die Musikschule eine musikalische Ausbildungsstätte.
Die Musikschulen profitieren von der Ausweitung ihrer Arbeit, weil ihre Lehrerinnen und Lehrer davon profitieren. Wir befragen immer wieder die bei uns ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer, ob sie einen Unterschied in ihrem Unterrichten bemerken. Die nahezu einhellige Feststellung ist, dass sie bessere Lehrer auch für ihre nichtbehinderten Schüler geworden sind. Sie haben aus Notwendigkeit gelernt, in kleinen Schritten vorzugehen, abzuwarten, anschaulich zu sein, flexibel zu reagieren auf Stimmungen, Rücksicht zu nehmen, jeden Anlass zum Musizieren zu nutzen, das Kind voll zu akzeptieren und mit ihm Spaß am Musikmachen zu haben.
Ich bin davon überzeugt, dass die Arbeit mit behinderten Menschen und mit Gruppen, die am Rande stehen, die Musikschulen verändern wird. Wir haben im Laufe der Geschichte der Musikschule in den letzten 50 Jahren gesehen, wie das Besondere das Normale verändert hat. Die Musikschulen, nach dem Kriege das Besondere, veränderten die Landschaft der Musikerziehung. Gedacht sei weiterhin an die Einrichtung und Beteiligung am Wettbewerb „Jugend musiziert“, an die Einführung der Musikalischen Früherziehung, an die Öffnung zu Jazz, Pop, Tanz, Theater. Das Besondere verdrängt nicht das Normale, sondern verändert es, so dass im Prozess der Normalisierung eine neue Form entsteht, in der das vorher Besondere einen neuen Akzent setzt.
Die Musikschulen haben die Chance, dass das Besondere ihrer Arbeit mit behinderten Menschen in das „Normale“ eindringt. Wenn behinderte Menschen selbstverständlich Schüler einer Musikschule sind, wird eine besondere Didaktik und ein neues Musikverständnis die bisherige Normalität verändern.
Literatur:
Werner Probst: Instrumentalspiel mit Behinderten – Ein Modellversuch und seine Folgen, Mainz 1991
Werner Probst: Fortbildungen des Verbandes deutscher Musikschulen zu „Musik mit behinderten Menschen“ in: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hrg): Eigensinn & Eigenart. Kulturarbeit mit Menschen mit Behinderung. Remscheid 1999
Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen (Hrg.): Musik mit Behinderten an Musikschulen, Nürnberg 1999