Chor "stimmig"
Irmgard Merkt : "stimmig" - ein inklusiver Chor
Vorbemerkung
Chorleitung ist für mich seit Studienzeiten ein Vergnügen. Menschen zum Singen zu bringen - das mochte und mag ich immer noch gern. Besonders, wenn es um Menschen geht, die sich nicht in einen "richtigen" Chor trauen. Als Lehrende an der Pädagogischen Hochschule, an der späteren Universität Dortmund und der schließlichen TU Dortmund hatte ich in der Regel einen studentischen Chor, der diejenigen "einsammelte", die nicht in den "eigentlichen" Hochschulchor konnten oder wollten. Lange Jahre hatte ich einen "Friedenschor", der ein Repertoire zwischen Brecht/Eisler, Walter Mossmann und traditionellen Liedern "von unten" aus aller Herren Ländern sang. Ich schrieb viele Chorsätze...
Das Engagement für die musikalisch-kulturelle Bildung von Menschen mit Beeinträchtigung führte mich im Rahmen der Ausbildung der Studierenden in Schulen, Werkstätten für behinderte Menschen und in Musikschulen. Das Singen von und mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen blieb immer mein Thema. Das Projekt "Dortmunder Modell: Musik" gab wieder die Gelegenheit zur Gründung eines Chores unter zwei Gesichtspunkten: Kulturelle Bildung für erwachsene Menschen mit und ohne Beeinträchtigung und Inklusionserfahrungen für alle Beteiligten, für die Werkstattbeschäftigten und für die Studierenden. Alle brauchen Erfahrung im Umgang miteinander.
Gründung
Der Chor "stimmig" war Teilbereich des Projektes "Dortmunder Modell: Musik", er wurde im Jahr 2010 eingerichtet. Von Beginn an war dieser inklusiv ausgerichtete Chor als Lehrveranstaltung für Studierende konzipiert. Nach Ende des Projektes im Jahr 2013 wurde er als "normale" Lehrveranstaltung weitergeführt. Verortet war er räumlich an der TU Dortmund - ein großer Dank gilt dem Internationalen Begegnungszentrum der TU Dortmund dafür, dass wir in den schönen Räumen des IBZ proben und auch die Küche nutzen durften! Den Chor gibt es bis heute - allerdings ist gerade Corona-Pause. Wir hoffen alle, dass eine Fortführung im Jahr 2021 wieder möglich sein wird.
Kooperation
Das Dortmunder Modell: Musik war, wie bereits erwähnt, ein Projekt meines damaligen Lehrstuhls Musik in der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund. Die Kooperation mit den drei Dortmunder Werkstätten für behinderte Menschen war zentrale Merkmal von DOMO. Kooperationspartner waren die Werkstätten der Arbeiterwohlfahrt Dortmund, die Werkstatt Über den Teichen und die Werkstatt Gottessegen.
Zeitlich lag der Chortermin - dienstags um 16.00 Uhr - im Anschluss an die Arbeitszeit der Werkstattbeschäftigten, die mit Fahrdiensten oder Taxis oder von Eltern zur TU Dortmund gebracht wurden. Das Projekt konnte im ersten Jahr die Fahrtkosten übernehmen, ab dem zweiten Jahr mussten die Teilnehmenden aus den Werkstätten die Fahrtkosten selbst tragen.
Organisatorisches
Der Chor "stimmig" war, wie bereits erwähnt, Teil des Lehrangebotes für Studierende der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund, aber auch Studierende aus allen Fakultäten und Studierende der Seniorenstudiengänge konnten dabei sein. Voraussetzung für den Erwerb eines Studiennachweises für Studiengänge innerhalb der Fakultät Rehabilitationswissenschaften war neben regelmäßiger Teilnahme auch die Erstellung eines Portfolios, das der Reflexion des Erlebten und der Selbstbeobachtung diente.
Der Chor fand während der Semesterzeiten einmal wöchentlich statt. Grundsätzlich endete jedes Semester mit einem Abschlusskonzert. Im Sommersemester war dies regelmäßig ein öffentlicher Auftritt im Rahmen des Sommerfestes der TU Dortmund, im Wintersemester eine öffentliche Konzertveranstaltung in der letzten Semesterwoche.
Der organisatorische Aufwand für die Veranstaltung war erheblich: Die Hilfe von Studierenden war unerlässlich. Sie konnten "live" etwas erfahren über die "Mühen der Ebene" im Kontext Inklusion: Werkstattbeschäftigten müssen vor Beginn der Probe von den Taxen abgeholt werden, Stühle müssen aufgestellt, Kaffee muss gekocht und verteilt werden, die Spülmaschine muss ein- und ausgeräumt werden und im Anschluss an die Probe müssen die Sängerinnen und Sänger in die richtigen Taxen begleitet werden, mit denen sie nach Hause gebracht werden. Und so weiter.
Ohne eine verantwortliche Ansprechpartnerin und Koordinatorin kann ein solches Projekt nicht durchgeführt werden. Seit mehreren Jahren ist Frau Sabine Hohmann, ehemals Seniorenstudierende, diese Ansprechpartnerin für alle. Für Studierende, für die Werkstätten und für die Menschen mit Beeinträchtigung - und für die Chorleiterin.
Teilnehmende
Chorerfahrene stehen neben Neulingen, Stimmsichere stehen neben Stimmunsicheren, die Einigung auf eine Tonhöhe gelingt nicht immer. Manche der Sängerinnen und Sänger aus den Werkstätten kommen nur, um im Rahmen der Chorprobe einfach ein Klangbad zu nehmen: Sie singen kaum mit, genießen es aber sehr, dabei zu sein.
Manche der Studierenden haben selbst Chorerfahrung - in Schulchören, Chören der Kirchengemeinden oder auch in anspruchsvollen Ensembles. Tatsächlich kommen auch Studierende in den Chor, die selbst wenig oder nie singen, für sie ist der Chor selbst ein Experiment.
Ein solch heterogener Chor verlangt auch ein eigenes Chorverständnis; die alleinige Orientierung an einem traditionellen Chorklang und einer traditionellen Choraufstellung würde viele und Vieles ausschließen.
Pro Semester nehmen zwischen 40 und 60 Studierende und zwischen 20 und 25 Menschen mit Beeinträchtigung teil. Die Werkstattbeschäftigten nehmen fast fausnahmslos über Jahre am Chor teil, die Studierenden nur ein Semester.
Breitenbildung
Der Chor versteht sich als Angebot kultureller Bildung. Der Bildungsanspruch liegt in der dezidierten Absicht, allen Beteiligten bislang nicht bekannte musikalische Inhalte aus verschiedenen Epochen und Kulturen zu vermitteln und zu eigenen Aktionen mit Instrumenten und Bodypercussion zusätzlich zum Einsatz der Stimme anzuregen. Alle, die Studierenden und die Werkstattbeschäftigten, sollen sich darin erproben, etwas zu machen, was sie im Rahmen eines Chores noch nicht gemacht haben. Dass Altbekanntes mit Elementen von Renaissance-Musik bis Avantgarde, von Jazz und Volkskultur seinen Platz hat, ist selbstverständlich, dass die üblichen Schlagerparaden und Tageshits keinen Platz haben, auch.
Repertoire
Die Veranstaltungen innerhalb des Semesters folgen einem inhaltlichen Motto, das jeweils zu Beginn des Semesters benannt wird. Das konkrete Programm entwickelt sich „im Gehen“. Es ist immer auch abhängig von instrumentalen Fertigkeiten aus der Reihe der Studierenden und aus der Reihe der Menschen mit Behinderung. Finden sich unter den Studierenden gute Klavierspieler, werden Stücke mit pianistischer Begleitung erarbeitet und aufgeführt. Die Chormitglieder selbst setzen gelegentlich Effektinstrumente als Intro oder als atmosphärische Begleitung ein.
Eines der wesentlichen Merkmale der Chorarbeit ist die Beteiligung aller Chormitglieder bei der Erarbeitung von eigenen Texten zu neuen Stücken. Die Chormitglieder werden dann nach ihren Assoziationen zu bestimmten Themen befragt. In Kleingruppenarbeit werden die Äußerungen durch die Studierenden gesammelt, die Autorenschaft der jeweiligen Assoziation wird nicht festgehalten. Aus den notierten Assoziationen werden Wörter zu Wortketten oder Texten zusammengestellt, die schließlich von einzelnen Chormitgliedern gesprochen und von Stimmaktionen wie etwa gesummten Clustern oder Flüstern begleitet werden. Anteilige Melodien für Singstimmen und kleine zweistimmige Sätze trage ich als Chorleiterin selbst bei.
Die musikalischen Themen wiederholen sich nicht: So haben viele der Menschen mit Beeinträchtigung mit den Jahren insgesamt 20 kleine Chorprogramme erarbeitet und erlebt.
Methoden
Viel Bewegung, viel Bodypercussion.
Stimmbildung
Singen ohne Noten
Texte sprechen
Szenische Darstellung
Instrumentale Begleitung
Mitsingen zu Musikstücken
Bewegung zu Musikstücken
Mit dem Programm eine Geschichte erzählen
Das Publikum einbeziehen
Fortsetzung folgt....
Ein Text in englischer Sprache über den Chor "stimmig" von 2012: Voices: An Inclusive Choir in Dortmund, Germany Irmgard Merkt (PDF)